Lebenslinien 2017

GIESSEN. Die Lebenslinie, auch Daumenfurche genannt, ist eine Handlinie. Menschen, die die Handlesekunst beherrschen, sollen aus dieser Linie Informationen ableiten können, die über die „Qualität der Antriebskräfte und Motivation einer Person“ Auskunft geben. Das findet heraus, wer das Wort „Lebenslinie“ in die weltweit agierenden Suchmaschinen eingibt. Mit dieser Deutung ist man gar nicht so weit weg von jenem, was an der Gesamtschule Gießen-Ost gerade in der fünften Auflage betrieben wurde. Dann nämlich, wenn sich ehemalige Schüler bei der Veranstaltung Lebenslinien“ treffen, um den aktuellen Schülern ihren (Berufs-)Weg vorzustellen. Denn auch die Ehemaligen geben ja Auskunft über Antriebskräfte und Motivation, die sie zu dem gemacht haben, das sie sind – oder auch nicht sind. Nun konnten wieder 700 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 10 bis 13 unter 35 Referenten zwei ihnen gemäß erscheinende auswählen, um sie nach deren Kurzvortrag, der manchmal auch etwas länger ausfiel, mit Fragen zu bombardieren. Je eine Stunde hatten die Referenten vor ihren Interessenten Zeit, um ihren Weg in den Beruf, ins Studium, ins „work and travel“ nach Australien oder sonst wohin vorzustellen. Oder, wie Schulleiter Dr. Frank Reuber bei seiner launigen Begrüßung der ehemaligen Ostler bei Schnittchen und Kuchen anmerkte: „Für die Schülerinnen und Schüler beginnt gegen Ende ihrer Zeit hier auch eine Phase der Unsicherheit. Wir wissen, dass es weitergeht. Aber die Schüler müssen das noch erfahren. Und das geht besser, wenn ihnen ehemalige Ostschüler das zeigen. Das ist lockerer als bei Berufs- oder Studienberatungen.“ Und so machten sich die Apotheker, Lehrer, Mediziner, Verkäufer, die irgendwann selbstständig gewordenen ehemals Unselbständigen auf den Weg in die Klassenräume, um ihre Lebenslinie (mal wieder oder eben zum ersten Mal) zu skizzieren. Der ein oder andere war schon bei der ersten Auflage dieser so naheliegenden wie sinnvollen Veranstaltung dabei, viele der Referenten aber haben gerade erst seit zwei, drei Jahren die Schule verlassen, um ihre Lebenslinie in Angriff zu nehmen.

Auch mancher Dinosaurier

Das kleine Jubiläum, vor zehn Jahren gab es das alle zwei Jahre stattfindende Treffen erstmals, führte aber auch einmal mehr manchen Dinosaurier an die Schule zurück. Wer irgendwann in den 80ern sein Abi im rotgeklinkerten Ostschulreich baute, der steht als Referent vor den Schülern, als sei er aus der Kreidezeit herübergesegelt. Gleichwohl war auch das Interesse an der Oldie-Generation groß, Berufswünsche als auch Lebenswege der Altvorderen waren durchaus gefragt beim Ostschul-Nachwuchs. Und wenn man dann dort, zum Beispiel als Sportredakteur sitzt, sich reden hört, seinen Weg beschreibt, in viele interessiert dreinschauende Gesichter blickt und in einige, die eher gelangweilt vor sich hingähnen, kommt man nebenbei ins Grübeln. Über die größte Banalität überhaupt: Kinder, wie die Zeit vergeht. Und man ist auch dankbar für die Zeit, die man an genau dieser Schule verbringen durfte, auch dass man nun vielleicht dem ein oder anderen Nachfolger eine kleine Anregung mit auf den Weg geben kann. Vor allem, wenn eine Lehrerin einem noch steckt: „Erzählt auch, wenn es mal nicht so rund lief, was nicht geklappt hat, dass eine Lebenslinie durchaus auch ihre Unterbrechungen haben kann, dass das sogar manchmal gut ist.“ Dann weiß man, das ist sie immer noch, die gute alte Ost. Mit ihrem Geist, der zu individueller Förderung neigt, nicht nur zum funktionalen Mainstream. Der krumme Weg kann zur prägnantesten Lebenslinie werden. Oder, wie ein Referent des Abi-Jahrgangs 83 sagte: „Es ist doch immer wieder schön, hierherzukommen.“ Zum Schluss noch ein Handschlag. Da treffen sie sich wieder, die Lebenslinien.

Quelle: Gießener Anzeiger, Autor: Rüdiger Dittrich